Der gestrige Tag - oh ja, ich schreibe einen Tag später, dazu am Ende mehr - begann wie üblich: Tilman wachte auf. Bei seinem Gang vom Baumhaus zum Klo traf er auf Birgit, die Bademeisterin, die für ein schönes Frühstück Brötchen geholt hatte.
Nachdem Tilman mindestens ein Mal, vielleicht aber auch öfter erfolglos versucht hat, mich aus dem gemütlichen Baumhaus zu verscheuchen, bekam er von Birgit ein Megafon gereicht, mit dessen Hilfe er endlich meinen schlaftrunkenen Zustand beenden konnte.
Als aufgewecktes Kerlchen war ich einem Frühstück natürlich nicht abgeneigt, und so gesellte ich mich zu Tilman und Birgit. Erst zu dritt, später zu fünft saßen wir in der kleinen Badeaufsichtskabine und hatten einen ziemlich entspannten Morgen.
Nach dem Frühstück bequemten wir uns wieder ins Baumhaus: wie im gestrigen Blog schon besprochen, bepackte Tilman das Fahrrad, während ich den Blog mit der Diktierfunktion des Handys schrieb.
Das dauerte wie immer seine Zeit, und als ich fertig war, saß Tilman mit Birgit am Becken und quatschte über jenes und dieses.
Als wir dann entschieden, jetzt aber mal loszugehen, war es schon halb 12 und wir hatten immer noch nichts von Neukirchen (Erzgebirge) gesehen.
Das holten wir dann im Schnelldurchgang nach. Apropos Durchgang: erinnert ihr euch an unsere Beschreibungen der Straßendörfer mit nur einer Straße, an der die Häuser wie aufgereiht stehen? So könnt ihr euch auch dieses Neukirchen vorstellen, nur halt mit ein paar tausend Einwohnern.
Nach einer halben Stunde laufen, vorbei an Blumenbogen, Rathaus, Schule, zwei Supermärkten und zwei Banken (für unsere Verhältnisse eine wirkliche Großstadt!) kamen wir zur Kirche, wo es einen zweiten, separaten Glockenturm gibt: es wurden einst, nachdem die Kirchenglocken mal wieder einem Krieg zum Opfer gefallen waren, so große neue Glocken angeschafft, dass diese nicht mehr in den alten Turm passten!
Die Kirche selbst zeigte uns dann Pfarrer Bilz. Beim Eintreten war sofort klar: Hier fehlt etwas! So eine karge, leere Kirche, ohne riesige goldene Gemälde und Heiligenfiguren ... Auf unsere (besorgte) Rückfrage stellte sich aber heraus, dass es sich "einfach nur" um eine evangelisch-lutherische Kirche handelte. Wir waren ob der langen Zeit in bayrischen Wallfahrtskirchen natürlich trotzdem einigermaßen geschockt!
Etwas sehr Spannendes gab es in der Kirche dann aber doch: die Kirchenfenster waren einige Jahre nach dem ersten Weltkrieg entworfen worden und zeigten unter Bildern aus dem Leben Jesu (eher typisch) und passender "Kriegsszenen" (eher untypisch) die Namen der Verstorbenen aus Neukirchen im ersten Weltkrieg. Eine ganze Menge Menschen, und irgendwie eine sehr eindrucksvolle Art, die Gräuel des Krieges anschaulich zu machen.
Nach der Orgelbeschauung, bei der Tilman die Technik bewunderte, und einem sehr netten Gespräch mit dem Pfarrer watschelten wir den ganzen Weg zum Freibad wieder zurück, und verpassten damit leider auch den ersten Tierfriedhof Sachsens, den ich mir eigentlich gerne angeschaut hätte.
Wieder am Freibad machte Birgit noch ein paar Fotos (wir kommen in die Freibad-Jahres-Rückschau!), dann durfte oder musste sie noch eine Runde mitfahren, was sich als nicht so gruselig herausstellte, wie erwartet worden war.
Es war jetzt 14 Uhr, und wir waren noch exakt null Kilometer gefahren.
Das änderte sich zwar, aber nur sehr langsam: noch bevor wir wirklich in Chemnitz waren, rief eine Reporterin an, die über unseren Aufenthalt in Sachsen berichten wollte.
Warum sie nicht einfach zu uns kam, fragt ihr? Weil es sich um Neukirchen, den Stadtteil von Sachsen bei Ansbach handelte, in dem wir vor ziemlich langer Zeit waren. Wir unterhielten uns dann nett, allerdings auch mehr als 20 Minuten, und so war es plötzlich noch später!
Was nun folgte, habe ich in meiner Notizliste so beschrieben:
"- Chemnitz übel beleidigen wegen Fahrradwegen".
Das übernimmt Tilman:
Und so fuhren wir nach Chemnitz rein. Eine Stadt mit so schlechter Fahrradinfrastruktur, dass sie gleich zwei Namen braucht, damit man denkt die Beschwerden wären im Durchschnitt. Immer noch sah man an verschiedenen Stellen die Schilder mit "Karl-Marx-Stadt!". Nach einer Zeit, die uns beiden als Ewigkeit vorkam und in der wir mindestens so viel gealtert sind, dass meine Kandidatur als Verkehrsminister sogar möglich erscheint, hatten wir es endlich geschafft und waren außerhalb der Stadt.
Dementsprechend besser waren wir gelaunt und so fuhren wir relativ langsam, weil hügelig, und relativ gelangweilt, weil landschaftlich uninteressant durch Sachsen.
Erst abends gegen 19:30 Uhr erreichten wir unser nächstes Neukirchen, das zu Reinsberg gehört.
Begrüßt wurden wir mit einem großen, hochwertigen (nur das Material!) AfD-Plakat und einigen Kühen, die in der Nähe der Straße weideten. Direkt fuhren wir zur Kirche, die sich ganz am anderen Ende des wieder mal erstaunlich langen Dorfes befand.
An der um diese Uhrzeit natürlich geschlossenen Kirche bekamen wir die Auskunft, dass in einem Nachbarhaus jemand mit Schlüssel wohne.
Diese Information war bei Tilman offensichtlich nicht optimal aufgehoben, der sogleich am falschen Haus klingelte. Die Frau, die aufmachte, war sehr interessiert an unserer Reise (Ihr Kalender kommt aus Neukirchen-Vluyn - den kennen wir natürlich auch!), wollte aber auch unsere Ausweise sehen, war erkennbar froh dass wir Deutsche waren und fragte dann (und das war wirklich überraschend) ob wir auch echte Deutsche seien oder vielleicht böhmischer Abstammung. Als ihr Mann aus der geöffneten Tür schaute, grüßte ich ihn, was er mit einem Schließen der Haustür quittierte; da half auch nicht das Wort "Liegetandem", das seine Frau noch sagen konnte, die Tür war zu.
Im Nachbarhaus, in dem sich gerade der Männergesangsverein mit einigen etwas unfreundlichen älteren Männern auflöste, fanden wir dann einen Herrn mit Kirchenschlüssel. Zuerst wurde Tilman ausgefragt, dann wurde sich beschwert, dass wir ja zu wirklich unmenschlicher Zeit noch in die Kirche schauen wollten - es war ja schließlich schon fast acht Uhr abends! - dann ließ man uns aber doch hinein.
Natürlich in Begleitung eines Herren, der dann auch sofort verkündete, man wolle ja, dass in 14 Tagen noch alles da sei. Schade! Wir hatten extra viele Vorräte aufgegessen, dass wir in den Packtaschen noch Platz für den Altar gehabt hätten.
Besonders ironisch: es war auch noch eine renovierungsbedürftige evangelische Kirche, in der es nun wirklich nichts zu holen gab. Hier also ein expliziter Hinweis für die Kirchenräuber unter euch: Reinsberg-Neukirchen lohnt sich leider überhaupt nicht, wir haben das unter dem Deckmantel einer Neukirchen-Liegetandem-Tour mal ausspioniert.
Dieses Neukirchen, zusammen mit dem dort nicht existenten Internet, bestätigte also so ziemlich alle Vorurteile, die man gegenüber der sächsischen Provinz haben kann. Vorurteile, denen bei unseren letzten Neukirchen absolut gar nicht entsprochen wurde, wie ja schon im Blog (auch diesem Eintrag) beschrieben wurde. Da fanden wir es umso trauriger, eine solche Erfahrung zu machen!
Dieser Blog ist und bleibt natürlich unpolitisch; eine Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit, identitärem Gedankengut und damit natürlich der AfD ist für uns aber selbstverständlich.
Wir dachten uns also: "nichts wie raus!", fuhren noch knapp 15 Kilometer und fanden einen netten Ort zum Zelten. Leider immer noch komplett ohne Internet, da blieb sich die Gegend treu, sodass wir weder den letzten Blog hochgeladen haben, noch diesen Blog geschrieben haben.
Das machen wir jetzt, bei einer wunderbaren Mittagspause, mit einer Menge Gummibärchen (immer noch von der 1-kg-Packung aus Neukirchen vorm Wald). Dazu aber vermutlich im heutigen, also morgigen, Blog mehr!