Liebe Neukirchenfans,
manche von Euch fragen sich bestimmt, wie wir das harte Leben als Tourer überleben, denn ihr kennt den täglichen Trott: Halb sieben aufstehen, ein Pfund Quark zum Frühstück, auf das Radl setzen, bis 20:30 Uhr strampeln, sich von Autos fast überfahren lassen weil es wieder keinen ordentlichen Radweg gibt und dann einen schiefen, mückenbefallenen Zeltplatz finden. Sich noch mit letzter Kraft irgendetwas Undfinierbares in den Rachen stopfen, weil man keine Zeit und Lust mehr auf das Kochen hat, und dann schnell im Zelt einschlafen weil es draußen schon wieder viel zu kalt ist.
Wer diese Tortur mindestens drei Tage am Stück mitmacht, darf sich offiziell "Tourer" nennen. Zur Vereinsmitgliedschaft gehört regelmäßiges ungläubig-mitleidsvolles Kopfschütteln näherer und fernerer Verwandten, Poschmerzen, zwanghaft regelmäßige Verwendung von Sätzen wie "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung" oder "[...] weil es wieder keinen ordentlichen Radweg gibt", und ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber den "Schönwetter-Sonntags-Radlern", oder auch, dem vernünftigen Teil der Menschheit.
Obwohl wir natürlich Vollblut-Tourer sind, möchten wir hier eine Lanze brechen für den Luxus-Tourer-Tag, eine heute wiederentdeckte, verschollen geglaubte Art des Tourens, die zugegebenermaßen auch nur möglich ist, wenn man tolle Personen trifft.
Aber der Reihe nach:
Das Aufwachen im Tipi in Braunfels-Neukirchen war schon super. Müde, aber einigermaßen ausgeruht packten wir unsere Sachen und ich wurde frisiert. Da ich gestern (wohl zum ersten Mal in meinem Leben) auf meine zu zu vielen Haare angesprochen wurde, nahm sich Hannah mithilfe des mitgebrachte Rasierer vor, meine üppig wuchernde Mähne zu dezimieren.
Unten am Feuerwehrhaus warteten dann schon Chris Schleifer und Tandem, das wir dort gestern unterstellen durften. Chris ist Ortsbeirat, Mitglied im historischen Verein, bei der Feuerwehr, Landwirt, und das alles nebenberuflich. Außerdem ist er, wie Hannah es so schön zusammengefasst hat, jemand, den man unbedingt als Nachbar haben will. Nachdem er gestern den großartigen Empfang und die Tour organisiert hat, hat er uns heute morgen dann noch beim Tandem beladen geholfen - die heißen Scheibenbremsen haben gestern ein kleines Loch in unsere Packtaschen gebrannt, es galt also, sie anders zu befestigen!
Nachdem das erledigt war, frühstückten wir Pizza und Torte vom Vortag (nicht das Schlechteste!) und fuhren gemütlich um 9:30 Uhr los, mit dem Ziel, noch 90 Kilometer zu schaffen und knapp 25 Kilometer vor Lichtenfels-Neukirchen unser Nachtlager aufzuschlagen.
Bis dahin war es ein schöner, aber relativ normaler Fahrtag. Doch um 11.30 Uhr hörte ich eine Nachricht, die unseren Tag komplett auf den Kopf stellte.
Ich schlaf dann mal, bis morgen!
Nein, natürlich nicht! (Tilman ist ja noch wach)
Wir erhielten eine Sprachnachricht von Claudia Hummel, Ortsvorsteherin von Lichtenfels-Neukirchen, und die Nachricht war, ganz grob, folgende: Wenn ihr es heute Abend noch schafft, könnt ihr bei mir im Landgasthof Waldecker Hof schlafen, kriegt auch was zu essen und ein Frühstück.
Wir haben also den nächsten Zug genommen.
Nein, auch wieder nicht richtig, aber die Aussicht auf Bett, Strom und Essen (die drei Götzen des Tourenradlers) waren für uns Ansporn genug, trotz einiger Höhenmeter quasi ohne Pause durchzuradeln. Ziemlich genau 116 Kilometer am Ende, nur mit einer kurzen Essenspause (es gab Zwetschgenkuchen; ist das nun gesünder oder ungesünder als das Eis, das wir gestern zum Mittagessen hatten?).
Besonders erstaunlich ist diese Leistung in Anbetracht der Tatsache, dass wir bisher maximal 85 Kilometer geschafft hatten.
Natürlich unterstützen uns verschiedene Faktoren: Das hervorragende Wetter zum Beispiel, die schöne, abwechslungsreiche Landschaft, die großartigen Radwege.
Am wichtigsten aber war Tilman. Und das sage ich nicht, weil er die letzten Tage regelmäßig auf sein Schnarchen angesprochen wurde!
Tilman verbrachte viel Zeit damit, die beste Route zu planen, und führte uns dann über eine so phänomenale, ausgeschilderte, größtenteils asphaltierte, schnelle und angenehme Strecke, dass ich nur ehrfurchtsvoll mein spärlich behaartes Haupt beugen kann! Außerdem fuhr er heute wieder vorne und zeigte erstaunliche Fähigkeiten im Ausweichen, Wenden und In-Die-Kurve-Legen, drei wirklich nicht einfache Fähigkeiten am Steuer unseres Mobiles (zweiter und dritter Namensvorschlag übrigens! (Gondola) Neukirchen und Kon-Tiki - das war ja bekanntermaßen eine ganz ähnliche Reise ...).
Mit Tilmans genialen Fähigkeiten und unser beider Muskelkraft landeten wir schon um viertel vor sieben, drei Stunden vor erwarteter Ankunftszeit, in Lichtenfels-Neukirchen. Völlig überrascht über uns selbst duschten wir gemütlich und bekamen dann sogar unser Abendessen gesponsert! Da wir ziemlich ausgehungert waren, ließen wir uns das nicht zwei Mal sagen, aßen richtig leckere Burger, und nach einem super netten Gespräch mit Claudia, das uns noch gespannter auf den morgigen Empfang blicken lässt, sind wir jetzt so weit, ins Bett zu gehen. Das heißt, Tilman ist schon im Bett, und ich bewege mich auch gleich fröhlich von Tisch zu Bett: Endlich mal wieder schlafen! Und morgen dann ein richtiges Frühstück!
Wie gesagt: Ein wahrer Luxustag. Und ein tolles Beispiel dafür, wie wichtig die Personen, und wie unwichtig der touristische Glanz ist. Mit so tollen, hilfsbereiten und warmherzigen Menschen können wir uns nichts Besseres vorstellen!