Nachdem wir am vorigen Tag unter einem Unterstand am Dorfplatz eingeschlafen waren, wachten wir heute mit komplett trockenem Zelt auf. Das war allerdings nicht nur dem Unterstand geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass es überhaupt nicht regnete – fast schon enttäuschend!
Tilman wachte also traditionell früh auf, ich traditionell nicht. Wir hatten beide nicht perfekt geschlafen, da irgendwann um (gefühlt?) 5 Uhr einige Laster vorbeigefahren waren. Doch liegenbleiben war nicht, um 8:30 Uhr war ja Treffen mit der Oberbürgermeisterin angesagt, da sollten wir möglichst nicht im Schlafsack angehüpft kommen.
Pünktlich um halb waren Frau Luedtke und ein Stadtmitarbeiter da, die sogar ein riesiges Frühstück mitgebracht hatten! Leider – und ich hoffe, ich trete ihr da nicht zu nahe – hatten wir nicht das Gefühl, dass der Bürgermeisterin der kleine Stadtteil besonders nah am Herzen lag: Hauptsächlich schien das für sie ein Fototermin zu sein, und ein Gespräch entwickelte sich nicht so richtig. Vermutlich hielt sie uns einfach für zwei komische Vögel, die eine völlig unsinnige Fahrradtour machen und sich nicht mal zwei separate Räder leisten können. Und so ganz könnten wir da natürlich nicht widersprechen!
Das hatte als Konsequenz, dass wir, was Neukirchen anging, nach dem kurzen Treffen genau so schlau waren wie davor. Herr Rossa (der auch schon im letzten Blog auftritt) hatte noch organisiert, dass der Pfarrer uns die Kirche zeigen würde, wir sollten einfach am Pfarrhaus klopfen. Natürlich wollten wir das gerne tun, erst mal galt es aber, das große und sehr leckere Frühstück zu verspeisen. Wir waren uns zu Beginn fast sicher, dass das Frühstück für mehr Personen geplant war, hatten aber unseren eigenen Hunger unterschätzt, und nach kurzer Zeit waren alle vier belegten Brötchen und alle vier Pfannkuchen verputzt. „Pfannkuchen?“, werden einige von euch verdutzt fragen, aber ja: Wir sind schon vor einigen Tagen über die Krapfen-Pfannkuchen-Grenze gefahren. Was von dem Großteil der deutschen Bevölkerung „Berliner“ genannt wird, hat nämlich, zumindest in Bayern und Sachsen, noch mindestens zwei weitere Namen!
So satt wie man nur sein kann, klopften wir beim Pfarrhaus, wo eine erstaunliche Überraschung auf uns wartete. Wir waren gerade am Tag des Hauskreises dort, und der Hauskreis, bestehend aus Pfarrer und etwa fünf weiteren Personen, saß gerade im Haus an einem großen Tisch und aß gemütlich gemeinsam Frühstück. Wir wurden sofort hereingebeten und sollten mitessen, was wir aus Sorge um unsere Mägen leider ablehnen mussten. Trotzdem genossen wir die Zeit total, und alle waren unglaublich nett. Nach einem tollen Gespräch über die Tour, Neukirchen und die angrenzenden Dörfer wurden wir durch die Kirche geführt. Mal wieder eine relativ schlichte evangelische Kirche, wie wir in letzter Zeit viele sehen. In diesem Fall aber mit einer spannenden Farbgebung und mit Stühlen statt Bänken, sodass die Kirche auch flexibel als Veranstaltungsort verwendet werden kann.
Als wir aus der Kirche kamen, wurden uns noch gefühlt alle Reste des Frühstücks übereignet, und mit vier mal Joghurt, mehreren Bananen, Pfirsichen und vielen Trauben im nun doch ordentlich gefüllten Gepäck machten wir uns auf den Weg. Nach Neukirchen, fragt ihr? Nein! Tatsächlich nur etwa einen Kilometer nach Wyhra! Dort wurde uns von zwei Personen, die auch beim Hauskreis waren, die dortige Kirche gezeigt – fast Neukirchen, könnte man sagen, auch wenn alle Neukirchener vermutlich vehement widersprechen würden.
Diese Kirche war eine wirklich schöne, alte Bauernkirche mit ganz viel Holz und einer tollen Atmosphäre. Neben der Kirche war auch die kleine DDR-Geschichte spannend, die uns von den Personen erzählt wurde. Die Geschichte von ihrem Vater, der immer gegen die DDR gewettert hatte und dann 1987 gestorben ist, hat mich ganz schön gerührt. Für mich als 1996 Geborenen ist dieser Teil der deutschen Geschichte immer noch relativ unbekannt, allen Schulunterrichts zum Trotz.
Nach diesem letzten Ende noch richtig schönen Aufenthalt in Neukirchen fuhren wir dann aber endgültig los, und zack, kam der angekündigte Regen und machte uns nass. Erst mal stellten wir uns unter, holten unsere Regenjacken und -hosen aus dem Gepäck und stellten nach Blick auf den Regenradar erstaunt fest, dass es schon in fünf Minuten aufklaren sollte. Also warteten wir ab, und tatsächlich: Nach wenigen Minuten war alles trocken! Im leichten Nieselregen fuhren wir weiter und wurden den ganzen restlichen Tag nicht mehr wirklich nass, allen gegenteiligen Ansagen zum Trotz. Überall um uns herum scheint es aber geschüttet zu haben – da scheint jemand einen schützenden Schirm über uns zu halten!
Auf der Strecke zum nächsten Neukirchen kamen wir an einer Gruppe flunkiballspielender junger Menschen vorbei, die – und das war das wirklich Witzige – mitten auf der Kreisstraße ihr Spielfeld aufgebaut hatten. Wir passten gerade so zwischen den Bierflaschen durch!
Vermutlich dadurch erinnert, wurden wir uns plötzlich unserem Durst bewusst, hatten aber keine Wasservorräte mehr. Der nächste Friedhof war abgeschlossen, die nächste Gaststätte war geschlossen, und die Saline wurde renoviert, also fragten wir am Wegesrand eine Frau, die vor ihrem Haus stand, nach ein wenig Wasser. Die Antwort wird euch genauso überraschen wie uns: „Neeeeein! Hier fragen so viele Leute nach Wasser! Wenn ich denen allen Wasser geben würde ...“
Uns interessiert sehr, was dann wäre: vermutlich würde es sie finanziell ruinieren. Und das kann man natürlich gut verstehen. Bei einem hoch angesetzten Preis von 2 Cent pro 10 Liter, und wenn jeden Tag sieben Personen nach zwei Litern Wasser fragen, dann hätte die Frau am Ende des Jahres 10 Euro für Radlerwasser ausgegeben!
Am nächsten Friedhof konnten wir dann aber doch unsere Wasservorräte auffüllen, und erreichten dann gut hydriert Hohenweiden. Hohenweiden ist ein Stadtteil von Schkopau, und Hohenweiden besteht aus Hohenweiden und Neukirchen. Ähnlich wie in Mehlingen-Neukirchen relativ zu Beginn unserer Reise gibt es auch hier kein Ortsschild!
Dafür aber, und das ist mindestens genauso gut, Unmengen an Mücken, die bei der Wahl zwischen Tilmans und meinem Blut leider völlig falsch entscheiden. Während Tilman sich also mit dem Mann unterhielt, der uns hier empfing, war ich damit beschäftigt, eine Mückenkolonie auf Armen, Beinen, Gesicht, Geheimratsecken und nackten Füßen möglichst effizient zu vernichten.
Es war eine unglaubliche Erleichterung, als wir endlich in die Kirche eingelassen wurden. So glücklich war ich über eine Kirche noch nie! Und die kurze Kirchengeschichte, die uns präsentiert wurde, war auch sehr interessant: Zwar war die Kirche sehr karg und hatte erkennbare Stellen, die eine Renovierung verlangten, doch in ihrer Geschichte war sie schlechter dran gewesen: Zum Beispiel als französischer Pferdestall, für den, da kein passender Eingang vorhanden war, mit der Kanone ein Loch in die Kirchturmmauer gesprengt wurde.
Außerdem steht in der Kirche eine Knoblauch-Orgel. Der Name kommt nicht vom guten Geschmack der Orgel (auch wenn ich nicht probiert habe), sondern von ihrem Erbauer, und wie uns als Laien versichert wurde, sei das eine ganz besonders gute und seltene Orgel. Leider waren wir aber allesamt nicht in der Lage, den Anschalter zu finden, und so durfte ich nicht probieren, ob unsere ungeschulten Ohren einen Unterschied wahrgenommen hätten.
Nach dieser kleinen Enttäuschung, aber insgesamt einem sehr netten Empfang in Ex-Neukirchen, fuhren wir einige Kilometer weiter nach Halle. Auch wenn uns der Anstieg dorthin als sehr anstrengend angekündigt wurde – durch das bisher absolvierte, vierwöchige Trainingsprogramm flogen wir die sogenannten Berge hoch, als wären es Hügel. Hm. Waren sie vielleicht auch!
Auf jeden Fall kamen wir nach kurzer Zeit in Halle an und wurden von Johanna begrüßt, der Mitbewohnerin der Schwester der Freundin von Tilman (logisch!). Hier verbrachten wir einen super netten, gemütlichen Abend mit Chili sin carne, und gingen danach relativ früh (und wieder ohne Blog zu schreiben) ins Bett. Und das, diesmal, nicht wegen überbordender Müdigkeit, sondern wegen des nächsten Tages, an dem wir 150 Kilometer fahren mussten: Potsdam ruft!