Heute ist der letzte Tag der langen Reise. Alles was wir uns vor der Tour ausgemalt hatten ist übertroffen worden. Jeder Tag hielt neue Begegnungen, Überraschungen und Besonderheiten bereit, die wir uns nicht schöner hätten ausmalen können. Einiges ist in diesem Blog beschrieben worden, vieles aber auch auf der Strecke geblieben. Sicher habe ich auch einige Fakten verdreht, Namen durcheinandergeworfen oder anderweitigen Unsinn geschrieben; natürlich nie in böser Absicht. Sollte euch irgendetwas derartiges auffallen, wenn ihr uns eine Anekdote, die wir vergessen haben, in Erinnerung rufen wollt, oder wenn ihr eine Frage habt (oder euch einfach nur melden wollt), schreibt uns gerne eine Mail an neukirchen.tour@gmail.com.
Erst mal ist das aber genug der abschließenden Worte. In den nächsten Tagen folgt hier noch ein Epilog, in dem ich es hoffentlich schaffe, die letzten Wochen ein bisschen Revue passieren zu lassen.
Nun aber zu heute: In ungewohnter Frühe wurde uns schon um 7:30 Uhr ein Frühstück bereitet. In dem großen Raum, in dem wir auch am gestrigen Abend bei der gemütlichen Abendzusammenkunft gesessen hatten, frühstückten wir dann zu zweit, und der Raum wirkte gleich viel größer. Der Tee wärmte uns ein bisschen und weckte unsere müden Gliedmaßen, und so waren wir nach einiger Zeit bereit, ein letztes Mal die Packtaschen zu befestigen.
Statt in „unsere“ Richtung loszufahren, machten wir aber erst Mal einen kleinen Umweg über das Ortsschild, wo wir auch gestern bei dem Fotoshooting mit Journalist schon viele Male vorbeigefahren waren. Im Nachbarhaus wohnte nämlich eine der Nachbarinnen, die am Abend zuvor dabei war, und die sich noch verabschieden wollte. Dabei machte sie erneut Fotos vor dem Ortsschild, was wir ja hinlänglich gewohnt waren, und schenkte uns zum Abschied zwei Äpfel aus dem eigenen Garten sowie zwei Tafeln Schokolade. Zwar werden wir Mühe haben, die restlichen Vorräte in den nächsten zwei Wochen aufzuessen, trotzdem war das natürlich super nett. Außerdem – hier kann ich in der Zeit ja mal springen – war es uns mühelos möglich, die Geschenke auch heute schon kulinarisch zu würdigen, wobei meine Freundin Hannah sich der Äpfel annahm!
Nach diesem netten Treffen wendeten wir also das Tandem und fuhren nun in korrekter Ausrichtung auf den Ostseeküstenradweg. Vorbei an schönen Reetdachhäusern radelten wir einige Kilometer, wie gewohnt mit einigen Steigungen, am Radweg, bis wir auf eine größere Bundesstraße trafen. Diese hatte einen straßenbegleitenden Radweg, der nicht unbefahrbar war, und diesen Luxus konnten wir uns nicht entgehen lassen: Wir folgten der Straße bis Flensburg. Auch diese Stadt lud uns nicht ein, länger zu verweilen, im Gegenteil: Wie das bei Städten so üblich ist, waren wir als Radfahrer froh, als wir wieder draußen waren. Danach folgte noch ein kleiner Flugplatz, auf dem wir einige Flugzeuge beobachten konnten, dann waren wir weg aus der Stadt, weiterhin auf einem straßenbegleitenden Fahrradweg, und vor allen Steigungen der Ostküste geflohen. Die Kilometer hinter Flensburg waren quasi komplett flach, und je näher wir an die Küste kamen, desto flacher wurde das Land.
Während wir so unserem Weg folgten, und ich wegen des akuten Blogrückstandes immerhin noch zwei Artikel schrieb, wurden wir plötzlich vom Straßenrand fotografiert und laut dazu aufgefordert, anzuhalten. Das war nun wirklich neu, und erstaunt bremste Tilman – und wir staunten nicht schlecht, als ein sehr bekannt aussehender Mann auf uns zuging! Es brauchte eine Weile, bis wir uns an das richtige Neukirchen erinnert hatten, aber dann fiel der Groschen: Es war der Gemeinderat aus Borna-Neukirchen, der uns am Abend besucht und mich dann freundlicherweise zum Dönerladen im Nachbarbarort gefahren hatte!
Er war gerade mit seiner Partnerin auf dem Weg in den Urlaub und hatte uns erkannt. An Tilmans Haarpracht, wie er betonte: Eindeutig ein gutes Erkennungsmerkmal, auch wenn der Bart seit unserem Potsdam-Aufenthalt ja doch deutlich an Volumen eingebüßt hat. Und trotzdem war das natürlich ein sehr ungewöhnlicher Treffpunkt, direkt an einer Straße im äußersten Norden Deutschlands.
Wir haben tatsächlich leider nicht so viele Fotos von uns während der Fahrt; wir freuen uns sehr über Zusendungen per Mail!
Bei einem Pausenaufenthalt beobachteten wir ein seltsames Kleintier, das Tilman auf dem Tisch entdeckt hatte, dann fuhren wir gemütlich weiter – der letzte Tag sollte ja nicht so anstrengend werden! „Halt!“ höre ich schon rufen, „ihr fahrt nach Westen! Da ist immer Gegenwind!“, und ich muss zugeben, das hatte ich auch erwartet. Doch nein, Tilmans Vorhersage von Rückenwind trat zwar nicht ganz ein, doch wir hatten immerhin einen der wenigen fast windstillen Tage Schleswig-Holsteins erwischt und konnten so tatsächlich einfach fahren, ohne gegen die Berge des Nordens ankämpfen zu müssen. Stattdessen beguckten wir uns die flache Landschaft, die zahlreichen Windmühlen und die Kühe, die uns im Gegenzug auch interessiert betrachteten.
Erstaunlich problemlos, und wie angekündigt gegen 15 Uhr, erreichten wir das letzte Neukirchen (wir können es selbst kaum glauben) in Nordfriesland. Kaum anders als die anderen Ortseinfahrten, bis auf den Versuch Tilmans, uns umzubringen. Er konnte den Sturz nach freihändig fahren dann aber doch noch verhindern, ein Glück! In Neukirchen angekommen bogen wir direkt auf den Kirchenweg ab, und fuhren durch quasi unbebautes, ganz grünes Gebiet mit einigen wenigen Häusern zum Haus der Vereine.
Hier trafen wir Bürgermeister Jörg Hansen, ein vergleichsweise junger Bürgermeister, der hauptberuflich Schornsteinfeger ist. Nach einem kurzen, netten Gespräch schlug er vor, das Tandem im Haus der Vereine einzuschließen; er wolle uns die Gemeinde zeigen. Etwas skeptisch, denn nach der Fahrt durch den Kirchenweg hatten wir den Eindruck, der Ort könne nicht mehr als eine Handvoll Personen beherbergen, gingen wir dem Vorschlag nach und fuhren mit dem Bürgermeister los. Und dann waren wir, gelinde gesagt, überrascht, denn unser letztes Neukirchen hatte noch mal einiges zu bieten. Es erfüllte sogar unsere inoffiziellen „Großstadt“-Kriterien: Arzt, Bäckerei, Bank, Gaststätte (sogar mehrere!), KiTa, Schule, Supermarkt. Wer in einem Ort wohnt, der all das hat, herzlichen Glückwunsch! Das ist mehr als die allermeisten Neukirchen!
Noch beeindruckter waren wir dann von der Gemeinde, als wir durch das Industriegebiet fuhren, wo viele kleine Handwerksbetriebe ihren Sitz hatten. Diese Ballung von kleinen, robusten Unternehmen führte dazu, dass die Gemeinde kaum von Corona betroffen war – nur „Geld ausgeben war schwierig!“. Nach diesem Ausflug in ein Gebiet, das sonst von Touristen vermutlich in keinster Weise besucht wird, fuhren wir in das Outdoor-Deichmuseum, wo anhand von Deichmodellen, Querschnitten und Schaubildern Deiche erklärt werden. Während wir da so standen und uns unterhielten, bekam der Bürgermeister einen Anruf vom Pfarrer, wo wir denn blieben. Er würde uns erwarten!
Eine Kirchenführung wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen, und vom Pfarrer selbst hatte Herr Hansen davor auch sehr positiv erzählt, also fuhren wir zurück in den Ort zur Kirche. Diese überraschte uns durch zwei Eigenschaften besonders: einerseits besaß sie keinen Turm, weshalb irgendwann direkt daneben ein kleiner Mini-Turm mit Glocken gebaut wurde. Diese seien zwar extrem laut und würden so den Pfarrer viel zu früh aus dem Schlaf reißen, allerdings entsprach der Turm nicht ganz dem imposanten Läuten und war nicht höher als das Hauptschiff der nicht besonders großen Kirche.
Abgesehen vom Äußeren überraschte uns aber auch das Innere, und das ist ja nach so vielen Kirchen recht verwunderlich: auf dem Altarbild war ein Abbild Gottes zu sehen, der Jesus im Arm hielt; wir sind beileibe keine Altarbildexperten, aber das kam uns dann doch ungewöhnlich vor. Entweder, wir waren bisher einfach nicht darauf aufmerksam gemacht worden, oder diese Darstellung ist tatsächlich ungewöhnlich, auf jeden Fall waren wir erstaunt! Der Kirchenaufenthalt war also sehr lehrreich, und auch sehr unterhaltsam, denn Pfarrer Michael Golle war wirklich gut darin, unterhaltsam Geschichten zu erzählen.
So verquatschten wir uns dann ein bisschen und mussten uns tatsächlich etwas beeilen: Erstmals hatten wir einen wirklich festen Termin, Tilman musste um 20 Uhr vom 14 Kilometer entfernten Niebüll den Zug nach Dortmund erwischen. Vor unserer Abfahrt wollte uns Herr Hansen dann aber unbedingt noch den Stolz der Gemeinde zeigen: Die Nolde Stiftung Seebüll. Hier bekamen wir sogar noch zwei Nolde-Kalender geschenkt, dann gingen wir durch den wunderschönen Garten.
Für mich als Gartenliebhaber ein wahrer Genuss, und trotz der späten Zeit im Jahr über und über voll mit bunten Blumen, Insekten und Vögeln. Kurz gingen wir auch durch die Ausstellung, doch in die „echte“, große Ausstellung konnten wir im Moment wegen Renovierungsarbeiten nicht. Das wäre wohl allerdings, wegen des Zeitdrucks, auch gar nicht nötig gewesen, und so haben wir auf jeden Fall einen Grund, noch mal hier herzukommen!
Ein weiterer Grund wurde uns kurz darauf geliefert, denn der nächste, kurze Stopp war eine schöne öffentliche Badestelle an einem See, und gleichzeitig Veranstaltungsort des zweijährlich stattfindenden Skandaløs Festival, von dem wir skandaløserweise vorher noch nichts gehört hatten. Es klingt aber großartig!
Vor lauter Aufregung kratzte ich mich am Bein. Das, an sich, ist keine Tätigkeit, die ich normalerweise in diesen Blog integrieren würde, aus verschiedensten Gründen.
In diesem Fall entdeckte ich dabei aber eine ungewünschte Mitbewohnerin, ein Zecke, die es sich an meinem linken Knöchel gemütlich gemacht hatte. Nicht mit mir!
Etwas hektisch fragte ich nach, ob die Großstadt möglicherweise auch eine Apotheke besäße, da wurde mir eine noch bessere Lösung offenbart: Die Ehefrau des Bürgermeisters ist Arzthelferin, und nach einem kurzen Umweg über das Haus war die Zecke weg und mein Bein medizinisch umsorgt.
Frau Hansen war dann an unserer Fahrt interessiert, und vor allem auch einer Tandem-Mitfahrt nicht abgeneigt, und so wurde sie mit ins Auto gepackt und zum Haus der Vereine gefahren. Hier bugsierten wir das Fahrrad wieder aus dem Gebäude und wichtelten ein letztes Mal, indem wir Geschenke des (vor)letzten Neukirchens an den Bürgermeister weitergaben und neue Geschenke erhielten. Um unsere Wichtelaktion zu beenden, müssen wir nun wohl oder übel noch mal nach Neukirchen-Vluyn reisen; wir freuen uns schon!
Dann fuhr Tilman mit Frau Hansen zwei Runden um den Block, und schon war unsere Tour, nach sechs Wochen und einem Tag, beendet – wir können es kaum glauben!
Melancholisch verließen wir Neukirchen und reisten nach Niebüll. Tilman wollte nicht von Neukirchen reisen; die Fahrt mit den Öffentlichen von Neukirchen nach Niebüll (ich erinnere: 14 Kilometer) hätte 2 Stunden gedauert. Eine gute Verkehrsanbindung mit Bus und Bahn, siehe oben, steht nicht auf unserer Großstadts-Checkliste!
In Niebüll konnte Tilman noch gemütlich in den EDEKA reisen, um ein bisschen Proviant für die lange Reise einzupacken; dann fuhren wir drei Minuten, und standen auf einem Spielplatz, wo uns meine Freundin Hannah auf einer Schaukel schaukelnd erwartete. Damit Tilman rechtzeitig den Zug erwischen konnte, packten wir schnell den Großteil der Tourausstattung in Koffer und Rucksack, die Hannah mitgebracht hatten.
Dann war es Zeit für ein besonders von Tilman gefürchtetes Abschiedsritual, das wir uns einige Tage vorher überlegt hatten: Von der Stadtführerin in Neukirchen-Vluyn, also dem allerersten Neukirchen, hatten wir zwei kleine Fläschchen Schnaps geschenkt bekommen. Im Zuge der Reise, und durch unseren wenigen Alkoholkonsum, waren die Fläschchen im Badbeutel gelandet, und hatten dort alle Widrigkeiten der Reise unbeschadet überstanden. Bis jetzt, denn nun wurden sie, die uns auf der gesamten Reise begleitet hatten, feierlich geleert – was bedeutete, dass ich 1,95 Schnäpse trank, und Tilman die restlichen 0,05
Dann begleitete Hannah Tilman zum Bahnhof; ich duschte währenddessen, in der Hoffnung, es noch rechtzeitig zum Bahnhof zu schaffen. Daraus wurde nichts, und so wurde Tilman nur von Hannah winkend Richtung Dortmund verabschiedet.
Und das war es dann, das unspektakuläre Ende einer spektakulären, pannenfreien, denkwürdigen, ungewöhnlichen Reise. Wir sind dankbar, wir haben ein schönes, offenes, freundliches Deutschland kennengelernt und viel über uns und die Welt gelernt. Wir haben uns durch die Reise sicher verändert, bestimmt zum positiven, und wir hoffen, auch in einigen Neukirchen positive Spuren hinterzulassen zu haben. Ganz einfach ausgedrückt: Es hat einen Mords-Spaß gemacht!
Um es mit Tilmans passenden Worten zu sagen:
Es gibt viele tausend Menschen in Deutschland, die sich stolz als „Neukirchener“ bezeichnen. Nach dieser Reise sind es zwei mehr.
Ein Epilog folgt in den nächsten Tagen; bis dahin: Danke für die Aufmerksamkeit, danke für die Teilhabe an unserer Reise, und bis zum nächsten Mal – vielleicht ja irgendwo neben einer Bundesstraße in der Nähe der dänischen Grenze!